Erbärmlich


Floyd musste sich beeilen um die S-Bahn noch rechtzeitig zu erwischen. Um das Gleis zu erreichen musste er über eine Brücke hinweg und eine Treppe hinab. Als er die Brücke betrat konnte er an deren Ende bereits die S-Bahn einfahren sehen. Er legte eine Zahn zu, spurtete die Brücke entlang und nahm bei der Treppe gleich zwei Stufen auf einmal. Seine Mühe zahlte sich aus: Er konnte den Türschalter noch betätigen bevor dessen Licht aufhörte zu leuchten. Erleichtert betrat er die Kabine, setzte sich auf einen freien Platz am Gang nahe an der Türe, holte sein Buch hervor und begann zu lesen. Die S-Bahn setzte sich in Bewegung und nahm langsam an Fahrt auf. Wenige Minuten später kam sie bereits an der nächsten Haltestelle wieder zum stehen. Die Tür schoben sich mit einem Zischen zur Seite und kamen kurz darauf wieder zischend zusammen.

„Da draußen liegt jemand!“ sagte ein Fahrgast.

Floyd sah auf. Eine bebrillte Frau, kräftig gebaut und mit kurzen Haaren, öffnete die Türe und trat hinaus. Einem Jungen mit kurzen Haaren der ebenfalls an der Türe wies sie an die Türe zu blockieren damit die Bahn nicht weiter fahren konnte. Der Junge gehorchte und stelle sich zwischen die Lichtschranken.
Von seinem Platz aus konnte Floyd nicht besonders gut sehen, zwischen den Sitzen hindurch konnte er lediglich sehen wie ein junges Mädchen am Boden kniete und sich ihr blutiges Kinn hielt. Ihre Augen waren glasig, so ganz schien sie nicht zu begreifen was passiert war und das es sich um ihr eigenes Blut handelte das zwischen ihren Fingern entlang rann. Sie hatte schulterlanges, leicht lockiges braunes Haar und ein nettes Gesicht. Die Frau hatte sich neben sie hingehockt, gab ihr ein Taschentuch und schien mit ihr zu reden.

„Da ist jemand hingefallen!“ ertönte es wieder.

Um Floyd herum begannen die Leute aufzustehen. Wie eine Schar Hühner reckten sie die Hälse auf der Suche nach Futter. Floyd blieb sitzen und sah dem Jungen zu der gebannt hinaus sah und es nicht bemerkte wie ihn die Türen immer wieder verächtlich zischend anstubsten.

Inzwischen kam der Fahrer der S-Bahn zum Schauplatz des Geschehens. Er redete kurz mit der Frau, erkundigte sich nach der Lage und ging dann zurück in seine Fahrerkabine. Der Lautsprecher knackte los: „Sehr geehrte Fahrgäste. Auf Grund eines Personenunfalls wird sich unsere Weiterfahrt etwas verzögern. Ich muss einen Notarzt rufen.“

Gemurmel und Gemurre machte sich unter den Fahrgästen breit und vermischte sich mit den zischenden Stößen der Türe, die es immer noch nicht aufgegeben hatte den Jungen zu belästigen.

„Hätte ich bloß den Mund gehalten, dann wäre wir jetzt weiter…“ jammerte der Fahrgast.

Floyd sah sich um, konnte aber nicht die Quelle dieses Satzes ausfindig machen.

Der Fahrer kam ein paar Momente später wieder aus seiner Kabine und ging wieder hinaus zum Mädchen und der Frau. Floyd konnte lediglich verstehen wie die Frau etwas in der Richtung sagte, das sie hier beim Mädchen bleiben würde bis der Arzt käme. Der Fahrer nickte kurz und sah zu wie die Frau das Mädchen zu einer Bank führte. Dann ging er am Jungen vorbei, der nun in einer Art von Trance (wie Floyd befand) einen Schritt zurück tat, wieder zurück zu seiner Fahrerkabine und kurz darauf setzte sich die S-Bahn wieder in Bewegung.

„Na also!“

Floyd klappte das Buch zusammen und sah hinaus aus dem Fenster. Eine gewisse Traurigkeit machte sich in ihm breit, er fühlte sich erbärmlich und schämte sich…

  1. #1 von Sophie am 19. August 2006 - 9:49

    Schön, dass du wieder etwas geschrieben hast – auch, wenn die Geschichte traurig ist.

(wird nicht veröffentlicht)